frauen in vasen

Prosa, Haymonverlag 2008

Der Fremde und der andere

Prosa mit halluzinogener Wirkung: Angelika Reitzers neuer Erzählband ist ein großer Sprachrausch.

In Frauen in Vasen vermittelt Angelika Reitzer Bilder vom rastlosen, nie endenden Unterwegssein. „Filmischen Sequenzen gleich folgt der Leser diesen Szenen eines Lebens, das dem ständigen Wandel unterworfen und doch nur das Bild unserer Zeit ist zwischen Freelancing und Sicherheit, Patchwork und Zweisamkeit, Selbstbestätigung und Ausbeutung“, heißt es im Klappentext.

In ihrer Erzählung Continental mischen sich Eindrücke vom Besuch des Markts in Tanger mit gemischten Gefühlen über fremde Kulturen und die alte Begeisterung der Hippies. Im Hinterkopf wälzen sich die Berufspläne, der Hafen und die Motoren sind laut. Sehnsucht widerhallt in den Felsen. In einem großen Sprachrausch wird die Bahn frei gemacht für die Suche nach einem eigenen Lebensweg. Der Text vermengt Ausrisse aus Tagen und Momenten, in denen von Verschiebungen und Verschobenheiten nicht nur berichtet wird, sondern diese formal auch ihre Entsprechung finden.

Frauen in Vasen Cover
Frauen in Vasen, Prosa 2008, Angelika Reitzer, Haymon Verlag

Die großartige Erzählung Umkleidekabinen entwirft die Vision einer Wohnungsbesichtigung. Hinter den Türen liegen Räume, die Zeitabschnitte, Geschichten, Lebensentwürfe und Persönlichkeitsanteile der Erzählerin freilegen. Wie ein Traum, in dem sich Gegenwart und Vergangenheit überlagern und ineinander greifen. Ein Traum, in dem Beckett auftritt und sich eine Maklerin als Therapeutin entpuppt. „Eher eine Therapeutin, wie Schriftstellerinnen sich diese wünschen“, sagt Angelika Reitzer.

In Grillgut fährt eine junge Frau mit Freundinnen zu den Eltern, ohne zu wissen, dass dort Erbschaftsangelegenheiten besprochen werden sollen. Beim Grillen werden diffuse Familienverhältnisse offenbart, Fotoalben aufgeschlagen, das Fleisch gewordene Ergebnis väterlicher Fehltritte gesellt sich hinzu. Ein Ordner, in dem alle Aufwendungen für die Kinder an Ausbildung und medizinische Behandlungen verzeichnet sind, soll Fürsorge demonstrieren. Das in den Boden sinkende Tischbein wird zur Metapher für die Schieflage einer familiären Situation.

Zwischen den neun Erzählungen verteilen sich sechs kurze Texte, die in Momentaufnahmen u.a. von Kindheitserinnerungen, Missbrauchserfahrungen, einem Selbstmord, einer Hochzeit, sexuellen Erlebnissen und einem imaginären Treffen mit Virginia Woolf berichten.

Angelika Reitzer schiebt in ihren Texten Deskriptives, Reflexionen, Erinnerungen und Szenen der Gegenwart bruchlos ineinander. Die Trance, die bei einem linearen Erzählfluss entstehen könnte, wird immer wieder unterbrochen und gesperrt. Der Leser muss sich konzentrieren und die Fäden neu aufnehmen. Es ist keine behauptende Prosa, sondern eine fragende, tastende. Die Sätze gehen im Leser auf Reisen. Man versucht, Zusammenhänge zu ordnen und zu orten. Aber sie entziehen sich, ebenso wie die Figuren. Gefühle werden als Weichbilder dargestellt und nicht als Fakten – mit fließenden Übergängen statt festen Rändern. Es geht nicht um eine zur Schau gestellte Souveränität der Erzählerin, sondern um eine andere Bandbreite der Wahrnehmung, um das Vage. So entsteht ein faszinierendes Gewebe, eine Prosa, die voll magischer Anziehungskraft ist und eine halluzinogene Wirkung besitzt.

Was reizt die Schriftstellerin an diesem Verwirrspiel? „Auf Lesungen bin ich immer wieder überrascht, wie viel Geschichte sich in den Erzählungen konstituiert. Dass sich die Figuren entziehen, das geht gar nicht anders. Ohne jetzt pädagogisch sein zu wollen: Ich bin keine Autorin, die ihre Leser in irgendeiner Weise unterfordern will. Ich nehme wahrscheinlich auch nicht besonders viel Rücksicht auf etwas, das man vielleicht konventionelles Leseverhalten nennt. Ich zweifle dieses stark an und halte es für ein Gespenst des Marktes. Deshalb bin ich der Meinung, man kann in die Vollen hauen. Manchmal geht dieser Schlag auch in die Luft. Gleichzeitig denke ich schon, dass es dem Leser möglich ist, für sich etwas herauszuholen“, sagt Angelika Reitzer.

Das Buch besteht zwar aus mehreren Erzählungen, wirkt aber auch wie ein verwinkeltes Romanprojekt, in dem vieles ineinander greift, sich aufeinander bezieht. Manche Figuren tauchen in unterschiedlichen Erzählungen auf. Der Leser weiß nicht, ob die gleichen Namen dieselben Personen bezeichnen. Ist das auflösbar?

„Möglichweise ist das Rätsel noch nicht in diesem Buch lösbar. Es sind teilweise auch identische Figuren, die manchmal aber auch die Rolle von Typen übernehmen müssen. Das hängt eher vom Kontext und nicht vom Text ab, in dem sie auftauchen. Ich will das nicht psychologisch erklären, aber Begegnungen sind für mich eine interessante Sache. Und da ist es eben auch so: In einem Zusammenhang hat man das Gefühl, den anderen zu kennen, in einem anderen bin ich der Fremde oder der Andere. Ich schreibe solitäre Texte, aber ich arbeite an einem großen Text. Bei Frauen in Vasen hatte ich weniger das Konstrukt des Erzählbandes im Kopf, aber als ich das Buch zusammengestellt habe, war es für mich schon recht organisch.“ [ZEIT online, Carsten Klook]

„Streuobst“ zum Beispiel versammelt eine Familie, eine „Frauenfamilie“, quer durch die Jahre im Obstgarten der Großmutter, die ihre Enkelin in die Geheimnisse des Obstbaus einweiht (die Autorin ist hier familiär belastet): „Du sollst ja durch die Krone eines Baumes einen Hut werfen können. Dann ist er gut ausgelichtet.“ Doch die besten Gärtnerregeln richten nichts aus gegen den Tod, gegen das Mahlwerk der Zeit ist kein Kraut gewachsen. Zum Schluss wird gerodet, mit dem Bagger. Dieser Text „ist so dicht, da kann man keinen Hut durchwerfen“, urteilte Wendelin Schmidt-Dengler, als Angelika Reitzer „Streuobst“ heuer passenderweise in der Schlossgärtnerei Wartholz las.

Eine Streuobstwiese ist übrigens das Gegenteil von Monokultur. Da liegt es nahe, den Obstgarten als Bild für dieses Buch zu sehen, in dem immer wieder eine Gärtnerin auftaucht, die sich einer aussichtslosen Sache liebevoll annimmt. [Daniela Strigl, Falter]

Immer wieder taucht die starke Persönlichkeit der Großmutter auf. Nach dem Tod ihres Mannes ist sie „nicht mehr Ehefrau“, sondern „nur mehr Mutter, Herrscherin“ über eigenes Land. In „Streuobst“ wird der penibel gepflegte Obstgarten der Großmutter zentraler Fluchtpunkt für Feste, wo sich die Frauen der Familie regelmäßig einfinden. Präsent ist ein kritischer, distanzierter Blick, der ironisiert und sich in der Absage an herkömmliche Textstrukturen fortsetzt.

Reitzer gelingt es, in ihrer Prosa einer schwebenden Welt Ausdruck zu verleihen. Durchwegs spürbar ist ein reflexiver, feinsinnig grundierter Gedankenfluss, den sie in eine poetisch aufgeladene Sprache gießt. Diese Sprache trägt einen gewissen Anspruch in sich, denn nicht nur folgendem Zitat wohnt eine traumwandlerische Sicherheit inne: „Sitzen. Warten. Beckett kommt nie, wenn man ihn braucht.“ [Maria Renhofer, Die Furche]

Texte – angelegt wie ein Garten

Angelika Reitzers zweites, bemerkenswertes Buch heißt „Frauen in Vasen“. Sind Frauen Blumen? Sind Erzählungen Bäume? Die Welt von Reitzers Protagonisten ist jedenfalls „unvertraut und guter Dinge“.

Zwei Schwestern kommen zu einem Familienfest und werden mit der Existenz eines Halbbruders konfrontiert, der Vater rechnet den Töchtern seine Vorleistungen auf, die Mutter bringt gerade noch ein schwaches Lächeln zuwege. Dieser Text heißt lakonisch „Grillgut“. In der Erzählung „Streuost“ wird ein Garten zum Sinnbild für Familiengeschichte(n): eine Hochzeit, ein Selbstmord, eine Begräbnisfeier. Auch das Warten auf die Freundin in „Die Frau die du kennst“ fährt nicht mit spektakulärem Stoff und großen Gesten auf. Auf einen klassischen Plot kann Angelika Reitzers Prosa locker verzichten, weil sich große Geschichten genauso gut durch Nebenschauplätze, in Bruchstücken und mit zufällig gewählten Ausschnitten erzählen lassen. Schon gar mit einer traumwandlerischen Sicherheit und beeindruckend sparsamer Poesie, wie sie diese österreichische Autorin an den Tag legt.

Anders als in ihrem ersten, viel beachteten Prosaband, „Taghelle Gegend“, hat man es hier mit einzelnen, abgeschlossenen Erzähltexten zu tun, zwischen die Reitzer noch kürzere Miniaturen – vage, wie durch Milchglas geschilderte Erinnerungen – gesetzt hat. Personen werden von einer (meist) Ich-Erzählerin ein Stück weit begleitet. Ein kurzes Schlaglicht fällt auf deren Versuch einer Standortbestimmung im Beruf, in der Beziehung und innerhalb der Familie. Erinnerungen und Reflexionen, Dialogfetzen und Zitate von Autorenkollegen überblenden ihr „unauffälliges Unterwegssein“ in einer Welt, die ihnen „unvertraut und guter Dinge“ ist. Jedenfalls manchmal.

Der Leser marschiert durch Wohnungen in Berlin und durch die Straßen von Tanger, durch die Provence und die Steiermark, oft auch durch Streuobstwiesen, Glashäuser und Gartenmärkte, vorbei an Beeten und Bäumen. Irgendwie wirkt es, als hätte sie die Texte wie einen Garten angelegt, mit wildromantischen Ecken und akkurat geharkten Rabatten, mit wucherndem Unkraut und veredelten Gewächsen, mit gekiesten Wegen, die leise und vertraut knirschen, wenn man im Geiste darüber geht. Das ist der grüne, der autobiografische Anteil an diesen „Frauen in Vasen“. Die Nähe zum Gartenbau liegt in Reitzers Familie, doch sie entschied sich für den Schreibtisch: „bewegt habe ich mich zuerst nur auf dem Papier.“

Solche Sätze brauchen kein Substral und kein Schneckenkorn, sie sind resistent gegen jede Künstlichkeit und geschmäcklerische Anwandlungen. Die Texte muten so an, als wäre ihr Wuchs ein Zufall – das täuscht. Man solle „durch die Krone eines Baumes einen Hut werfen können. Dann ist er gut ausgelichtet“ – in diesem Sinne betreibt Reitzer Laubarbeit an ihren Texten, stutzt zusammen, lichtet Sätze aus, bis ein Mindestmaß bleibt, um der Geschichte noch Halt zu geben. „Den meisten fehlt aber der Mut zum Auflockern, wenigstens die Krone…dabei ist es doch nicht so, dass die Bäume, wenn du Äste aus der Krone schneidest, weniger Obst bringen“, sagt die Großmutter. Als hätte die Enkelin Angst davor, in Texten Dinge aus- und wegzuschneiden.

Bei aller Liebe zur Natur, ganz traut die Autorin ihr nicht, sie taugt nicht als Mittel gegen menschliche Kälte. „Oder ist es immer so: man musste nur aus dem Garten hinausgehen, schon übersah man die, die einen brauchten?“

Ungerecht ist die Welt, aber Reitzers Text liegt nichts ferner, als das zu beklagen. Lakonisch fasst sich in Worte, was ist. Vor dem Haus Alberts wartet die Zurückgelassene, er wohnt nicht mehr hier. Der verschmähte ältere Bruder stirbt, der jüngere erbt sein Auto, aber er fährt es nicht. Der Landarbeiter, der Kinder anfasst, kommt ungeschoren davon – „ich mochte es nicht: angreifen. Es spielte sich außerhalb ab. Auf meinem Körper.“ Reitzers Texte verdecken mehr als dem konventionellen Leser wohl lieb ist. Sie erfordern Konzentration, den Spuren zu folgen, die sich verlaufen, die sich wieder finden. Wer ist diese Person, die spricht, wer die Person drei Absätze später? Von woher kommt das Du in den Text, so unvermittelt? Wer ist Gustl, wer ist Gusti? Man begegnet ihnen in Situationen, die es kaum zulassen, dass sie ein und dieselbe Person wären. Traditionelle Erzähllogik hat Sendepause.

Doch oft ist es nicht die Absicht, sondern die Sparsamkeit, die dazu führt, dass Fäden abreißen um sich an anderen Stellen wieder lose zu verschlingen. Wo sich die Details verdichten und die Dinge konkreter hervorzutreten scheinen, betätigt die Autorin die große Leertaste. Wo sich Geschichten weitererzählen ließen, steht ein Pausezeichen. Bruchlos setzt sich die Sprachmelodie fort, bruchlos scheinbar, weil sie nicht die Tonart, sondern das Thema wechselt.

Immer wieder werden Reitzers Texte mit Filmsequenzen verglichen, was stimmig ist. Als sie den Reinhard-Priessnitz-Preis 2008 erhielt, argumentierte man mit ihrem versierten „Einsatz von Schnitten und Überblendungen, von Schärfe und Unschärfe und Lichtführung“, der ihren Blick zur Kamera und ihre Erzählungen zu Filmen werden lässt. – Doch ihr Text leistet eine Spur mehr, er arrangiert und spielt die Melodie dazu. Ein stilles, betörendes Lied, dessen Echo noch lange nachhallt, wenn der Buchdeckel längst zugeklappt ist. [Die Presse – Spectrum, Madeleine Napetschnig]